Keine Frage der Intelligenz

Analphabeten sehen sich vielen Vorurteilen gegenüber: Sie seien dumm, faul oder selbst Schuld an ihrer Schwäche. Das zu behaupten ist nicht nur anmaßend, sondern auch falsch. Wir räumen mit den größten Vorurteilen über Analphabetismus auf.
01 - Menschen mit geringer Literalität sind dumm
Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, sind weder schlauer noch dümmer als andere. Zwar besitzen zwei Drittel der Betroffenen keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss. Das hat aber nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Eine geringe Lese- und Schreibkompetenz kann im sozialen Umfeld begründet liegen, sie kann aber auch Folge körperlicher Beeinträchtigungen sein: Manche Analphabeten schielen latent, also unbemerkt, wodurch ihre Fähigkeit zum räumlichen Sehen eingeschränkt ist. Die Folgen können unterschiedlich sein: Einige sehen Buchstaben verzerrt oder doppelt, bei anderen hüpfen Wörter beim Lesen auf und ab. Diese Sehschwäche nennt sich Winkelfehlsichtigkeit. Kann sie nicht durch eine Sehhilfe korrigiert werden, werden diese Menschen niemals richtig lesen und schreiben können.
02 - Menschen mit geringer Literalität sind faul
Ebenso wenig wie auf den IQ lässt sich bei Menschen mit geringer Literalität auf ihren Tatendrang schließen. Zu sagen, dass sie faul in der Schule gewesen wären, ist zu kurz gegriffen. Die Ursachen sind sehr viel komplexer und finden sie sich oft bereits in der Kindheit: fehlende Aufmerksamkeit von Eltern und Lehrern können ein Grund sein, Überforderung mit dem Lehrstoff oder Strafen bei Versagen. Mit der Zeit sinkt die Motivation, die Kinder verlieren den Spaß am Lernen, und je mehr Zeit vergeht, desto schwerer wird es für sie mitzuhalten. Die meisten Menschen mit geringer Literalität schaffen dennoch einen Schulabschluss, 6,3 Prozent befinden sich in einer Ausbildung und nur 12,9 Prozent von ihnen sind ohne Arbeit.
03 - Menschen mit geringer Literalität tragen selbst die Schuld
Viele Menschen in Deutschland werden quasi in den Analphabetismus hineingeboren. Denn die Schere zwischen sozialer Herkunft und Bildung ist bei uns im Vergleich zu anderen EU-Staaten überdurchschnittlich groß. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand nicht richtig lesen und schreiben lernt, ist bei Menschen aus benachteiligten oder bildungsfernen Schichten um ein Vielfaches höher. Zum Beispiel, wenn die Eltern selbst nicht richtig lesen und schreiben oder es Zuhause nur wenige Bücher und Zeitungen gibt. Viele Kinder werden schon früh abgehängt und holen den Rückstand nicht wieder auf. Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Beispiel Albert Camus. Die Mutter des französischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers hatte eine geringe Lese- und Schreibkompetenz. Er ist somit das, was wir heute einen Bildungsaufsteiger nennen. Die meisten schaffen solch einen Sprung nicht.